Trau dich, du selbst zu sein!

HWK vom 22. Oktober 2015

Stefan Pietsch, Handwerkskammer Hildesheim-Südniedersachsen

Im Zuge des Fachkräftemangels entdecken immer mehr Betriebe die Zielgruppe der Studienaussteiger für sich. Die Chancen einen Kandidaten zu finden stehen gut, denn das Handwerk kann jungen Berufseinsteigern etwas bieten, was ein Studium oft nicht vermag: eine echte Perspektive.

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Jan Dreßler war Anfang 20 als er – das Abitur ganz frisch in der Tasche – erst einmal für ein Jahr nach Australien und Kanada ging. Work & Travel (Arbeiten und Reisen) nennt sich die beliebte Überbrückungszeit zwischen Schule und Studium, die viele nach dem Wegfall von Zivildienst und Wehrpflicht dazu nutzen, sich Gedanken über die weiteren beruflichen Ziele im Leben zu machen. Nebenbei wird gekellnert und die englische Sprache erlernt. Für Dreßler hat sich in diesem Zeitraum immer mehr der Studienwunsch zum Fach „Digitale Medien“ verdichtet, mit dem Ziel Regisseur oder Kameramann zu werden. Ein geeigneter Studienplatz in Kassel war schnell gefunden und die Euphorie entsprechend groß. Doch leider nur für kurze Zeit.

„Bereits im zweiten Semester stellte ich fest, dass das Studium so überhaupt nicht meinen Vorstellungen entsprach“, erzählt er rückblickend. Die Idee, das Hobby zum Beruf zu machen, wurde von Fachtheorie und Programmiersprache erdrückt. „Kaum praktische Projekte, fast ausschließlich Arbeit am Bildschirm und das Pauken für Klausuren in Statistik und Medienrecht waren nicht meine Welt. Hinzu kamen ernsthafte Sinnfragen wie ‚Kann ich damit später etwas anfangen?‘ oder ‚Kann ich mich mit dem knallharten Geschäft in der Medienbranche überhaupt identifizieren?‘.“

Was dann passierte, war ein Schritt, den einige aus Dreßlers Freundeskreis befremdlich fanden. Er schmiss hin und hatte keinen Plan B. „Ich zog zurück zu meinen Eltern nach Göttingen und fühlte mich entsprechend mies.“ Gefühle des Versagens gepaart mit Zukunftsängsten sind für Studienaussteiger symptomatisch. Dreßlers Mutter war es, die ihn auf eine Ehrung der Meisterabsolventen im Tischlerhandwerk in einer Lokalzeitung aufmerksam machte. „Der Moment, in dem sie auf den Artikel zeigte und sagte, dass das etwas für mich sein könnte, da ich schon immer gern mit Holz gearbeitet habe, war die Initialzündung.“ Es folgten zwei Praktika in Tischlereien. Eines davon bei Tischlermeister Michael Reese, der von Anfang an das Potential des Studienaussteigers erkannte.

Viele Betriebe setzen voraus, dass ihre zukünftigen Schützlinge vor der Lehre im Betrieb ein Jahr lang die Berufsfachschule für Holztechnik besuchen, in der sie wichtiges Grundwissen erlernen. Während dieser Zeit hat Dreßler neben einem weiteren Praktikum in der Möbeltischlerei Reese auch immer wieder kleinere Projekte in den Werkstätten des Betriebes umsetzen dürfen. „In dieser Zeit haben wir uns per Handschlag auf das Ausbildungsverhältnis verständigt: Ein Mann, ein Wort“, erinnert sich Betriebsinhaber Reese, der bereits zuvor schon erfolgreich Studienaussteiger zu Tischlern ausgebildet hat.

„Wir haben sicherlich nicht die Musterlösung in petto, wie ein geglückter Einstieg eines ehemaligen Studenten in einen Handwerksbetrieb gelingen kann. Beide Seiten müssen es ausprobieren und schauen, ob es passt“, so Reese. Auf beiden Seiten, bei den Studenten und bei den Betrieben, gibt es Vorbehalte, die in den meisten Fällen völlig unbegründet sind. „Für ehemalige Studenten kommt die Vorstellung ins Handwerk zu wechseln einem sozialen Abstieg gleich, weil sie die Karrierewege im Handwerk nicht kennen.“ Das

Problem einiger Betriebsinhaber sieht Reese vor allem in deren Befürchtung, dass junge Leute von der Hochschule die klassischen Hierarchien nicht anerkennen könnten: „Stellen Sie sich das mal vor – da gibt jemand gegenüber den Altgesellen vielleicht eine etwas zu schlaue Antwort oder hat sogar Widerworte.“ Die Angst, dass man Fachkräfte ausbilde, die danach in die Industrie oder eben doch wieder in Richtung Hochschule abwandern, komme hinzu, weiß Reese.

Aber auch Studienaussteiger im Handwerk sind noch Lehrlinge. „Natürlich kann man in der Regel ein ganz anderes Sprachniveau voraussetzen und die Sozialkompetenzen lassen es zu, die Jugendlichen auch schon von Anfang an auf Kunden loszulassen – aber ich warne vor zu hohen Erwartungen.“ Denn auch wenn sie in der Theorie oft Bestleistungen erzielen, wird in der Praxis immer wieder deutlich, dass auch sie noch lernen und in jedem Fall die Unterstützung und Anleitung ihres Meisters oder Ausbilders benötigen.

Heute ist Dreßler, der sich im zweiten Lehrjahr befindet, nur noch privat Kameramann und Regisseur. Die Entscheidung, ins Tischlerhandwerk zu wechseln, hat er keine Sekunde lang bereut. In Theorie und Praxis ist er ein Einser-Schüler, mit besserem Durschnitt als sein Chef seinerzeit. „Darf ich ehrlich sein?“, fragt Reese zum Schluss: Er kann mich eigentlich mit nichts richtig ärgern, mit seinen Strebernoten aber schon.“ (lacht)

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